Der deutsche Amerikaner

Er kommt aus dem beschaulichen Ort Villingen-Schwenningen am Rande des Schwarzwaldes und ist nun in der großen Weite der Vereinigten Staaten von Amerika zu Hause. Zum Glück für ihn sind aber die Zeiten der großen Wanderschaft in Übersee mit den Stationen Philadelphia, Phoenix, Carolina und Florida vorbei und seit über zwei Jahren ist Dennis Seidenberg fester Bestandteil der Boston Bruins. Das möchte er ebenso noch die nächsten zwei Jahre seiner Vertragslaufzeit und wenn möglich weitere drei bis vier Jahre danach bis zu dem Ende seiner Karriere sein. Die eingekehrte Beständigkeit in seinem Berufsleben ist vor allem gut für seine Familie, die neben seiner Frau Rebecca mittlerweile drei Kinder umfasst.

Ich habe wie jedes Jahr einen Monat im Sommer im Haus der Eltern meiner Frau in Florida verbracht und jetzt sind wir in New Jersey in ihrer Heimat, ehe wir die nächsten Tage nach Boston zurückkehren“, schildert Dennis Seidenberg den Verlauf seiner eishockeyfreien Zeit. Aufgrund der Tatsache, dass seine Frau Amerikanerin ist und seine Verwandten ihn lieber besuchen kommen, zieht den Verteidiger wenig zurück nach Deutschland, wo er schon mehrere Jahre nicht mehr war. Das war auch einer der Gründe, warum er den Stanley Cup nach dem Gewinn im letzten Jahr nicht zu den Stätten seiner Kindheit und Jugend brachte. „Ich habe schon mitbekommen, dass einige sehr enttäuscht waren, aber direkte negative Reaktionen habe ich nicht bekommen“, gibt Seidenberg unumwunden zu, doch wie sollten es die Fans dem sympathischen Spieler auch krumm nehmen, schließlich hat er mittlerweile viele Freunde und eben Verwandte in den USA, eingeschlossen seiner damals schwangeren Frau, denen er die Feier ebenfalls nicht vorenthalten wollte und verständlicherweise Priorität einräumte.

Trotzdem hat Dennis Seidenberg Deutschland nicht ganz aus den Augen verloren, denn regelmäßig liest er die Eishockey-News und beschäftigt sich schon mit dem Geschehen in der „Alten Welt“. „Bei der Olympischen Spielen 2014 in Sotschi möchte ich auf jeden Fall für Deutschland auflaufen“, betont er und hofft, dass das Nationalteam nach der enttäuschenden WM im Frühjahr, die Qualifikation dafür im Februar 2013 erfolgreich gestaltet und die NHL dann pausiert.

Bis dahin wird noch einige Zeit verstreichen und die Konzentration gilt erst einmal den kommenden Aufgaben in der NHL. Im Sommer hat sich der 1,83 Meter große Defensivspezialist durch Laufen und Krafttraining fit gehalten und glaubt, dass er dadurch wieder stärker zurückkommt. Gelegentlich mangelnde es jedoch beim Programm an Sparringspartner: „Ich hätte gerne mehr Tennis gespielt, aber ich finde immer keine Gegner“. Wie auch, denn bevor er in seiner Jugend intensiv mit Eishockey begann, stand auch Tennis hoch im Kurs.

Die Enttäuschung nach dem Ausscheiden gegen die Washington Capitals in der ersten Runde der Playoffs im April war schon groß, aber „uns hat auch das nötige Quäntchen Glück gefehlt, das wir im Vorjahr vielleicht hatten.“ Symptomatisch kommt ihm die Szene mit seinem Teamkollegen Patrice Bergeron in den Sinn, der in der Verlängerung im Spiel 7 die große Chance hatte, das Spiel zu beenden, doch der Puck versprang ihm, ehe die Capitals den Sack zumachten. „Die Leistungsdichte in der Liga ist so groß, da brauchst du schon etwas Glück, um in den Playoffs weit zu kommen“, analysiert er nüchtern. Dass Dennis Seidenberg von vielen Seiten als der beste Spieler der Boston Bruins bei dieser Niederlage in der Serie eingestuft wurde, zeigt, welchen Stellenwert die Nummer 44 sich mittlerweile erarbeitet hat. Nicht wenige Experten hatten während des Stanley Cup Finales 2011 gegen die Vancouver Canucks offen darüber geredet, dass dem Deutschen wohl die Conn Smythe Trophy für den wertvollsten Spieler der Playoffs verliehen worden wäre, hätte Torhüter Tim Thomas nicht so überragend gehalten.

Alles Schnee von gestern und gerade Dennis Seidenberg weiß, dass man sich in dieser Liga jeden Tag neu behaupten muss und sich erst zeigen wird, was die Zukunft bringt. Insofern lässt es ihn eher kalt, dass die Bruins mit Neuverpflichtungen im Sommer zurückhaltend waren: „Wir haben bereits ein gutes eingespieltes Team und haben Verstärkungen nicht so nötig wie andere Mannschaften.“ Aber eines schmerzt dann schon, nämlich dass die Nummer 1 Tim Thomas eine Auszeit nehmen wird. Doch die Lücke wird laut Seidenberg hoffentlich nicht allzu groß sein: „Er ist zweifelsohne ein herausragender Torhüter, aber wir haben mit Tuukka Rask einen jungen zweiten Mann, der sich jetzt beweisen kann und unser vollstes Vertrauen genießt.“

Ob die Saison pünktlich losgehen wird und sich NHL und Spielergewerkschaft NHLPA noch rechtzeitig einigen, dazu will der 31-jährige Schwenninger keine Prognose abgeben: „Es ist schwer zu sagen, wie das weitergeht, aber alle verfolgen das Geschehen schon interessiert.“ Eine auch für die Spieler ungute Situation, weil man sich vorbereitet, aber nicht weiß, wann es losgeht. „Wir unterhalten uns schon häufiger darüber und dann geht es auch darum, was man im Fall der Fälle geplant hat: In Deutschland spielen oder AHL“, gibt Seidenberg zu und schränkt für sich sofort ein: „Doch das kommt für mich definitiv zu früh.“

So schön eine Rückkehr von ihm nach Deutschland für die Fans wäre, hoffentlich kann Dennis Seidenberg ab Oktober wieder um den Stanley Cup kämpfen und muss sich nicht wie beim letzten Lockout 2004/05 mit dem Gewinn des Calder Cups in der AHL begnügen. Denn so sehr er schon mit Land und Leute in den USA verbunden ist, wo er auch nach Abschluss seiner Karriere wohl bleiben wird, seine deutschen Wurzeln wird er, trotz seinem nach eigenen scherzenden Worten immer schlechter werdenden Deutsch und mittlerweile nahezu akzentfreien Englisch, nicht verleugnen. Schließlich ist er nicht nur durch den Gewinn des Stanley Cups, sondern durch seine beeindruckenden Leistungssteigerungen zum Aushängeschild des deutschen Eishockeys in Übersee geworden und eine wichtige Symbolfigur desgleichen.

Dieser Artikel erscheint auch auf NHL.com/de

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